KURIER, 10.11.2017, Peter Pisa

KURIER-Wertung: ****

„Der Siebenschläfer“: Die Psychotherapeutin Dagmar Formann über einen / über ihren Vater

Hinter der Pflanze im Vorzimmer versteckt sich ein Fußballer, ein Tormann, und er isst Bratwürste.

In der Ecke hockt die Rattenkönigin. Sie stinkt. Unter ihrem Rock sind die Ratten. Sie kommen nachts. Auch die Chinesen kommen nachts. Noch sitzen sie unter dem Lampenschirm.

Einen Siebenschläfer sieht er auch, wenn er aus dem Fenster schaut, und den Siebenschläfer gibt es vielleicht tatsächlich.

Papa, du verdienst die beste Pflege der Welt.

Aber Papa, du bist nicht auszuhalten.

Die Psychotherapeutin (und Fotografin, z. B. für Staatsoper und Burgtheater) Dagmar Formann hat den Roman, übrigens ihren ersten, in Erinnerung an „Papa“ geschrieben, und dann hat sie die Hauptfigur „der Doktor“ genannt.

Im Bett

Er war Kinderarzt, und seit er auf die 80 zugeht, liegt er nur im Bett, und seine Frau bedient ihn, pflegt ihn. Der Doktor beschimpft sie trotzdem, kommandiert sie, demütigt sie.

„Er hätte doch die andere nehmen sollen. Die hatte Feingefühl … Sie hatte zwar ganz flache Brüste, und ihre Nase war beim Küssen irgendwie im Weg, aber geliebt hat sie ihn heiß und innig.“

Dagmar Formann begnügt sich nicht damit zu erzählen, was der Doktor macht. Er macht ja nicht viel im Bett. Nimmt Schlaftabletten. Nimmt Beruhigungstabletten. Will eine Bratwurst essen … aber der depperte Fußballer im Vorzimmer frisst ihm alle weg. Die Autorin weiß, was er denkt, und das glaubt man ihr. Sie kannte den Mann bestens.

Also wieder kein Roman für die „Spaßgesellschaft“. Wieder ein Buch, dass einen „runterzieht“ … allerdings dorthin, wo man beste Chancen hat, selbst einmal hinzukommen.

Da kann man sich gleich jetzt fragen: Wird man dann, wenn es aufs Ende zugeht, Ruhe geben? Dankbar sein? Oder sekkant werden? Starrsinnig? Unfair?

Eine Pflegehelferin aus Kirgisien, Unterstützung der Ehefrau an manchen Tagen, bringt dem Alten etwas Lebenswillen zurück: Plötzlich geht er ein paar Schritte. Und er verlangt seine alte Skiwollmütze. Er will Ella, das ist die junge Pflegerin, das Skifahren beibringen.

Einst war er Sportler, Naturbursche. Er träumt von vereisten Bergen. Von Wäldern. Er träum so stark, dass er sich kratzt, aufkratzt, weil ihn die Insekten beim Wandern derart zu schaffen machten.

Ja, „Der Siebenschläfer“ tut weh. Dagmar Formann braucht nicht einmal ein Messer, um zuzustechen.

Und ja, man hat trotzdem immer das Gefühl, dass einem „Der Siebenschläfer“ guttut.

Vom deutschen Dichter und Zeichner Robert Gernhardt (1937–2006) kommt die Philosophie:

„Ertragen lassen sich das Leiden und Sterben der anderen doch nur dank der Gewissheit, selber einmal leiden, selber sterben zu müssen.“

Ach so?

 

https://kurier.at/kultur/neuer-roman-welcher-typ-ist-man-beim-sterben/297.374.276

 

Welcher Typ ist man beim Sterben? Buchkritik Peter Pisa, KURIER ****